Ja, es machtunsere-wunderbaren-jahre Spaß, ein Buch zu lesen, wenn bei der Erwähnung von Straßennamen, Kneipen und Geschäften, Sehenswürdigkeiten und Nachbarstädten sofort ein Bild im Kopf auftaucht, weil man an all diesen Orten schon einmal gewesen ist. Dass ich neun Jahre lang an (fast) jedem Schultag ein Stück Straße entlang gegangen bin, das im Altenaer Volksmund „Totschlag“ heißt, war mir dagegen neu. Das mag daran liegen, dass ich (anders als in Werdohl und Neuenrade) noch nie in Altena ein Schützenfest gefeiert habe. Nach den Schilderungen Pranges vielleicht auch ganz gut so, denn es fällt wohl unter die Kategorie „dafür muss man geboren sein“. Es macht auch großen Spaß, wenn plötzlich der sauerländer Slang wieder lebendig wird mit „Schüppe“, „Pläte“ oder „rammdösig“. Da hätte ich mir sogar gewünscht, dass auch das eine oder andere „woll“ am Satzende die Gespräche der Altenaer geziert hätte.

Aber ob die detailreichen Schilderungen der Lokalitäten in ihrer Ausführlichkeit auch jemanden in München, Leipzig, Köln oder Hamburg interessieren? Wenigstens ist es dem Autoren anzurechnen, dass er es sich ganze 194 Seiten verkneifen konnte, zu erwähnen, dass die Burg Altena die erste und älteste Jugendherberge der Welt beherbergt. 385 Seiten später wird dann noch einmal ausführlicher darauf eingegangen.

Ich habe jetzt nicht mitgezählt, wie oft Betten-Prange, das väterliche Geschäft, in dem Buch erwähnt wird, für meinen Geschmack ein paar Mal zu viel. Und, da ich gerade dabei bin: Es gab Diverses, was mir zu viel war in diesen fast 1 000 Seiten. Das sind nicht nur einige Klischees und Vorhersehbarkeiten, sondern beispielsweise auch die Verknüpfung mit Pranges erstem Bucherfolg „Das Bernstein-Amulett“. Und ob die eigentlich ganz nette Idee, Peter Prange als Nebenfigur auftreten zu lassen, auch wirklich gut umgesetzt wurde? Ich habe leise Zweifel, obwohl die Erinnerung an Nick-Knatterton-Mütze und Cordjacke durchaus amüsant war.

Auch einige Klassenkameraden, die – wie könnte es anders sein – zum Schützenfest auftauchen, halfen mir, mich an meine Jugend- und Schulzeit zu erinnern. Aber wenn „Unsere wunderbaren Jahre“ schon ein Bild der bundesdeutschen Geschichte zeichnen will, dann dürfen die 68er, deren Ausläufer auch bis ins Sauerland zu spüren waren, ebenso wenig fehlen, wie die RAF und das Geschehen drumherum. Dieses Geschehen hat die meisten von uns mehr geprägt, als ab und zu mal am Joint zu ziehen und unsere Eltern durch Hippie-Frisuren und – Klaomotten zu ärgern.

Und gerade diese Prägung ließ mein Kinnlade von ziemlich weit unten wieder hochklappen, als ich las, dass ein Mann in jungen Jahren ein Mädchen „zur Frau gemacht“ haben soll, und ihr Jahre später nochmal versichert wurde „durch ihn wurdest du zur Frau“. Sorry, aber was mich und meine Geschlechtsgenossinnen zu Frauen macht, ist wahrlich nicht in einer einzigen Liebesnacht zu bewerkstelligen. Bei der Verwendung des Begriffs „Muselmane“ hoffe ich, irgendeine versteckte Ironie nicht verstanden zu haben. Und dass Anfang des Jahrtausends Schwule derart verunglimpft wurden, wie im Buch beschrieben, erfordert schon Einiges an Phantasie. Das Tal der Lenne ist zwar so tief und eng, dass dort die Sonne nicht oft scheint, aber so beschattet waren die Menschen dort vor gut eineinhalb Jahrzehnten sicherlich nicht.

Nachdem ich auch andere Bücher Pranges gelesen habe, halte ich ihm mal zugute, dass er in diesem persönlichen Buch, gedanklich zu nah an dem Zeitgeist vergangener Jahre war. Etwas mehr erzählerische Distanz hätte ich mir da gewünscht.

Es ist ein dickes Buch, in dem aber auch eine große Portion Zeitgeschichte untergebracht wurde. Es hat mich nicht von der ersten bis zur letzten Seite durchgehend gepackt aber überwiegend wirklich gut unterhalten. Es zu lesen war wahrlich keine Zeitverschwendung. Aber auf die Gefahr hin, dem heutigen Erfolgsschriftsteller nach über 40 Jahren noch einmal auf die Zehen zu treten: Lieber Peter, sorry, aber das kannst du besser.

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Erinnerungen an den Schulweg: „Totschlag“ wird dieses Stück Thomeestraße genannt, das zum früheren Städtischen Neusprachlichen Mädchengymnasium führt.
Quelle: fwg-altena.info

 

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