„Stink sauer“ ist wohl die passende Bezeichnung für meine erste Reaktion auf die Statements und die Berichterstattung Anfang der Woche zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen. Inzwischen bin ich wieder so weit abgekühlt, dass ich aufschreiben kann, was mich daran so ärgert, ohne eine Vielzahl von Worten durch das in Funk und Fernsehen so beliebte „piiiiieeeep“ ersetzen zu müssen.
Auch ich gehöre zu den vielen hunderttausend Frauen in diesem Land, die im Laufe ihres Lebens häusliche Gewalt erleben mussten. Deshalb kenne auch ich das Gefühl von Fassungslosigkeit, Entsetzen, Angst, Scham – die völlig unangebracht ist, denn wenn sich jemand schämen muss, dann der Täter, Zweifel an den eigenen Menschenkenntnissen und daran, mit dieser Situation und ihren Folgen fertig zu werden.
Ich hatte Glück, ich kam mit leichten Prellungen und Hautabschürfungen davon, der damalige Ehemann kam nur noch einmal ins Haus um seine Sachen abzuholen. Das Alles ist viele Jahre her, ist inzwischen in meinem Kopf und meiner Gefühlswelt als einmalige, unangenehme Erfahrung ganz weit hinten abgespeichert, die mir und den vielen anderen, sehr oft viel schlimmer betroffenen Frauen zeigt, dass die Binse „Geteiltes Leid ist halbes Leid“ hier bestenfalls für kurze Zeit zutrifft.
Deshalb, weil in unserer Gesellschaft immer noch nicht vollumfänglich anerkannt ist, was auch in der Präambel des „Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ steht:
… dass Gewalt gegen Frauen der Ausdruck historisch gewachsener ungleicher Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern ist, die zur Beherrschung und Diskriminierung der Frau durch den Mann und zur Verhinderung der vollständigen Gleichstellung der Frau geführt haben;
… dass Gewalt gegen Frauen als geschlechtsspezifische Gewalt strukturellen Charakter hat,
… dass Gewalt gegen Frauen einer der entscheidenden sozialen Mechanismen ist, durch den Frauen in eine untergeordnete Position gegenüber Männern gezwungen werden;
Dieses als Istanbul-Konvention bezeichnete Übereinkommen hat Deutschland übrigens erst acht Jahre nachdem es von den ersten Mitgliedsstaaten unterschrieben wurde und drei Jahre nachdem es in Kraft getreten war, ratifiziert. Bittere Randnotiz: in der namensgebenden Stadt, in der so wichtige Forderungen für den Schutz von Frauen vor Gewalt ausgearbeitet und festgelegt worden sind, wurde in dieser Woche eine friedliche Demonstration von Frauen zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, von der Polizei GEWALTSAM aufgelöst, ohne dass die Behörden einen Grund dafür genannt haben.
Ja, selbstverständlich bin ich froh und dankbar, dass wir Frauen in Deutschland und in vielen anderen europäischen Ländern unbehelligt für unsere Rechte und damit für den Schutz vor Gewalt demonstrieren dürfen. Richtig begeistert wäre ich, wenn alle Demos und Aktionen von Frauen auch wirklich etwas bringen würden, außer ein paar betroffenen, aber oft beschwichtigenden Worten und Finanz-Zusagen von eher symbolischem Wert.
Wenn Familienministerin Giffey dieser Tage angesichts der Kriminalitäts-Statistik mit über 140 000 Opfern feststellt, es müsse dringend etwas gegen häusliche Gewalt getan werden, dann stellt sich die Frage, warum ist denn bisher so wenig dagegen getan worden, dass die Zahlen seit vielen Jahren gleichbleibend erschreckend hoch sind?
Mal ein paar Fakten aus der bislang größten europaweiten Erhebung der FRA (Agentur der Europäischen Union für Grundrechte) von 2014:
- 33 % der Frauen haben seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt erfahren. Dies entspricht etwa 62 Millionen Frauen.
- 22 % der Frauen haben körperliche und/oder sexuelle Gewalt in der Partnerschaft erlebt.
- 67 % meldeten die schwerwiegendsten Gewaltvorfälle innerhalb einer Partnerschaft nicht der Polizei oder einer anderen Organisation.
Mit anderen Worten, die über 114 000 weiblichen Opfer häuslicher Gewalt in Deutschland, die im vergangenen Jahr in der Kriminalstatistik erfasst wurden und die in keinem Medienbericht über den Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen in den letzten Tagen gefehlt haben, machen gerade mal ein Drittel der tatsächlichen Opferzahl aus.
Ja, die Zahlen aus der Erhebung sind fünf Jahre alt, es gibt meines Wissens keine aktuellere Untersuchung in dem Umfang. Und das Bundesfamilienministerium gibt sich immer noch damit zufrieden, sich in Veröffentlichungen im Jahr 2019 auf Studien aus den Jahren 2004 und 2009 zu beziehen. Noch Fragen zur Relevanz, die diesem Thema beigemessen wird? Meine Antwort wäre bestenfalls Zähneknirschen.
Und deshalb kann ich auch nicht nachvollziehen, mit welchem Stolz Frau Giffey in dieser Woche verkündet hat, dass die Regierung in den kommenden vier Jahren 120 Millionen für Frauenhäuser und Beratungsstellen zur Verfügung stellen will. Scham darüber, dass in den letzten Jahren und Jahrzehnten so wenig dafür getan wurde, und dass die Summe im Vergleich zu anderen Ausgaben des Bundes geradezu lächerlich ist, wäre m. E. eher angebracht. Vor meinem geistigen Auge tauchen zum Beispiel gerade die Worte „Scheuer“ und „Maut-Desaster“ auf. Ebenso wie die Überlegung, dass Giffeys Partei die große Koalition endgültig vor die Füße zu fallen droht, und sie noch schnell ein paar Pluspunkte bei den Wählerinnen sammeln möchte, bevor die Bedeutungslosigkeit droht.
Seitdem ich mich Ende der 70er Jahre zusammen mit vielen anderen Frauen für die Einrichtung eines Frauenhauses am damaligen Wohnort engagiert habe (es wurde fast 20 Jahre später eröffnet , an dieser Stelle vorsichtshalber ein „piiiiieeeep“ ), weiß ich, dass die Frauenhäuser in Deutschland immer mit ungesicherter Finanzierung zu kämpfen haben, die jährlichen Zuschüsse eher von Politik und nicht von Notwendigkeit bestimmt sind. Vor allem aber ist bekannt, dass die Zahl von 350 Häuser mit 6 800 Plätzen hinten und vorne nicht ausreicht, das ist umgerechnet nämlich nur ein Platz auf 16 350 Einwohner/innen. Die bereits erwähnte Istanbul-Konvention, die, wie bereits ebenfalls erwähnt, auch für Deutschland verbindlich ist, sieht 2,5 Plätze pro 10 000 Einwohner/in vor. Es fehlen also aktuell in Deutschland 800 Frauenhäuser mit 14 600 Plätzen.
Mal angenommen, die von Frau Giffey versprochenen 120 Millionen in den kommenden vier Jahren würden ausschließlich für die Einrichtung neuer Frauenhäuser verwendet, wären das pro Haus gerade mal 15 000 Ocken. Also für die Betreiber-Organisationen ist ein Ende des Klinkenputzens bei Kommunal- und Landes-Parlamenten und des Spenden-Sammelns nicht abzusehen. Von den misshandelten und verletzten Frauen und ihren Kindern, die wegen Platzmangels vor der Tür bleiben müssen, will ich gar nicht erst anfangen. Nochmal: „piiiiieeeep“
Wohlgemerkt, die Rede ist von der Finanzierung neuer Frauenhäuser, nicht von Folgekosten, Stellenschlüsseln und angemessener Bezahlung. Vor allem aber ist nicht die Rede davon, wie die Politik dagegen angehen will, dass Gewalt gegen Frauen ein strukturelles gesellschaftliches Problem ist und bleibt. Nebenbei: lediglich rund fünf Prozent der angezeigten Fälle führen zu einer Verurteilung des Täters.
Vor über 40 Jahren habe ich mir in jugendlichem Enthusiasmus einen Ketten-Anhänger mit dem Frauenzeichen gekauft und lange Zeit umgehabt. Seit einigen Jahren trage ich diese Kette wieder. Bestimmt nicht aus Enthusiasmus, sondern mit dem Gefühl dass es leider immer noch notwendig ist, darauf hinzuweisen zu wollen, dass das Ziel eines gleichwertigen, gewaltfreien Miteinanders von Frauen und Männern noch ein ganz schönes Stück weit weg ist. Lasst uns mal Tempo machen, um es schneller zu erreichen. Wir könnten zum Beispiel der Politik zeigen, dass wir uns mit milden Gaben von 30 Millionen Euro pro Jahr für den Schutz von hunderttausenden Frauen vor Gewalt nicht mehr zufriedengeben.
fl
