Diese Frage stellte sich vor drei Jahren, als unter dem Hashtag jeden Tag aufs Neue abertausende Frauen weltweit öffentlich davon erzählten, dass sie irgendwann in ihrem Leben mal Opfer von sexueller/sexualisierten Belästigungen, Übergriffen und Angriffen geworden waren. Das Thema hatte es in die Öffentlichkeit geschafft, und wer sich im eigenen Freundinnen- und Bekanntenkreis darüber unterhielt, konnte sich sehr schnell von dem Gedanken verabschieden, ein Einzel- oder sogar Ausnahmefall gewesen zu sein. Nicht nur als Selbstbetroffene, sondern vor allem als seit über vier Jahrzehnten bekennende Emanze, habe ich alle Nachrichten und Diskussionen geradezu aufgesogen und mich schwer über die Täter-Opfer-Umkehr von Kritikern der Bewegung, noch mehr von Kritikerinnen geärgert.

Wenn die Opfer solcher Übergriffe Jahre, sogar Jahrzehnte lang geschwiegen haben, haben sie ihre Gründe dafür gehabt, die ganz allein sie etwas angehen und ganz bestimmt nicht, von einer an Klatsch und Tratsch über Prominente interessierten Öffentlichkeit zu be- oder sogar verurteilen ist. Und wer sich beschwert(e), die Frauen, würden es sich in ihrer Opferrolle bequem machen wollen, wie z. B. Svenja Flaßpöhler, die nicht müde wurde, auf allen Kanälen Werbung für ihr nicht nur im Hinblick auf den Seitenumfang sehr schmales Büchlein zu bewerben, hat nie begriffen, dass sexuelle und sexualisierte Gewalt gegen Frauen ein strukturelles Problem ist. Und das lässt sich nicht allein dadurch lösen lasst, dass es nicht mehr verschwiegen werden kann, und es lässt sich schon gar nicht allein von Frauen lösen (so schön das wäre, denn dann ginge das deutlich schneller).

Das Ganze ist jetzt drei Jahre her, aber noch genauso aktuell, auch wenn aus dem Blick der breiten Öffentlichkeit nahezu verschwunden. Vielleicht weckt das Buch „#ME Too – Von der ersten Enthüllung bis zur globalen Bewegung“ wieder das Interesse. Eine große Leserschaft hat es jedenfalls verdient, finde ich.

Die Autorinnen Jodi Kantor und Megan Twohey sind die Journalistinnen, die mit ihren Recherchen und deren Veröffentlichung in der New York Times über Harvey Weinstein den Anstoß zur weltweiten Me-Too-Bewegung gaben. Wenn ich hier, mal so eben die Begriffe Recherche und Veröffentlichung verwende, dann sind die schnell dahingeschrieben. Das Buch der beiden Journalistinnen beschreibt sehr nachvollziehbar, wie lang und arbeitsreich der Weg von den ersten Hinweisen bis zum gedruckten Zeitungsartikel war. Und fast schon wie ein Krimi liest es sich, wie sie es geschafft haben, sich dem Druck entgegenzusetzen, mit dem nicht nur eine Veröffentlichung verhindert werden sollte, sondern auch weitere journalistische Investigationsarbeit.

Es ist wirklich ein gut geschriebenes Buch, das nie langweilig oder trocken ist, was vor allem daran liegt, dass die beiden Journalistinnen die Gratwanderung zwischen neutraler Darstellung, Empathie für die Opfer und Abneigung gegen die Täter richtig gut hinbekommen haben, trotz aller Bedenken, ob gerade sehr prominente Opfer sexueller Übergriffe und Gewalt ihre mediale Unterstützung brauchten. Schließlich kamen sie zu dem Schluss (S. 72): Eine der wichtigsten Aufgaben des Journalismus war es doch, den Stummen eine Stimme zu geben, denen die meist übergangen werden.

Und so ging es für sie nicht nur um bekannte Schauspielerinnen, sondern auch um Frauen, die nach den sexuellen Angriffen Weinsteins in jungen Jahren umgehend das Filmbusiness verlassen hatten, aber das Geschehen auch nach Jahrzehnten noch nicht aufgearbeitet hatten. Die Zerrissenheit, die in dem Buch beschrieben wird, bei der Entscheidung, Anzeige zu erstatten und sich damit der Öffentlichkeit und deren möglicher Kritik preiszugeben, befeuert von denen, die Täter schützen wollten, um ihre eigene Rolle zu vertuschen, nötigt mir noch größeren Respekt als bisher vor all den Frauen ab, die diesen Schritt gewagt haben.

Sie ermöglichten, dass die in dem Buch beschriebenen seit Jahrzehnten manifestierten Strukturen ein Stück ins Wanken gerieten, die z. B. Weinstein jahrelang vor eine Anklage bewahrten. Sie wurden und werden zum Teil bis heute nicht nur durch Machtansprüche und eine Unmenge Geld gestärkt wurden, sondern auch durch das Schweigen all derer, die Angst um die eigene berufliche Existenz hatten und haben. . Aber auch von denen, die es sich einfach damit bequem gemacht haben wegzusehen, oder aus persönlichem Vorteil schweigen.

An dieser Stelle noch einmal der Hinweis, dass trotz der schwierigen und auch beim Lesen oft belastenden Thematik der Stil von Jodi Kantor und Megan Twohey – sicher unterstützt durch die Übersetzerinnen Judith Elze und Kathrin Harlass – dazu beiträgt, das Buch gerne (weiter) zu lesen, was bei Sachbüchern nicht immer selbstverständlich ist. Dieses aber liest sich wie ein Roman oder Krimi, auch wenn es oft ganz üble Realität beschreibt. Mit anderen Worten: es lohnt sich, es aus dem Bücherei-Regal mit nach Hause zu nehmen.

fl

P.S.: Von mir persönlich noch ein ganz herzliches Dankeschön an alle, die ihren Beitrag dazu geleistet haben, heute noch leisten und hoffentlich in Zukunft noch leisten werden, dass das Zitat aus dem Buch (S. 234) für Opfer von sexueller Belästigung bis hin zu sexualisierter Gewalt immer selbstverständlicher wird (S. 234): Alle wollten – verständlicherweise – die Kraft und den Schutz der Gesellschaft.