Sie werden immer weniger, die Zeitzeug/innen des Zweiten Weltkrieges, der Nachkriegsjahre mit Hunger und Kälte, deren körperlichen und psychischen Auswirkungen und dem Bemühen um die Verarbeitung des Schreckens, der nicht selten im Bemühen um schweigendes Vergessen mündete. Umso wichtiger, dass Erinnerungen überliefert und erhalten bleiben, und auch die Kinder der damaligen Zeitzeug//innen diese Aufgabe übernehmen und aus ihrer Perspektive ganz neue Denkanstöße liefern. So trägt das Buch „Sieben Heringe“ von Jürgen Wiebicke den Untertitel „Meine Mutter, das Schweigen der Kriegskinder und das Sprechen vor dem Sterben“ und ist mit der Widmung versehen „Meinen Kindern. Damit aus Erzählen Weitererzählen wird.“

Mein Vater, hat die letzten Kriegsjahre als fast noch jugendlicher Soldat erlebt, meine Mutter war 15 Jahre, als der Krieg endete und ich kam 12 Jahre später zur Welt. In meiner Kindheit und Jugend hatten alle Erwachsenen, die ich kannte, das so genannte Dritte Reich, Krieg und Nachkriegszeit mehr oder weniger bewusst erlebt. Auch meine Generation, jünger als die Beteiligten der 68er Proteste, ist davon noch strark geprägt, wie stark ist mir erst in späteren Jahren bewusst geworden. Es erklärt mein Interesse an Büchern, beispielsweise von Sabine Bode, und eben dem im vergangenen Frühjahr erschienen von Jürgen Wiebicke.
Mit seinen Eltern hat Wiebicke in den Wochen vor ihrem Tod jeweils Gespräche über deren Vergangenheit geführt, bei seiner Mutter dabei Notizen gemacht, aus der Befürchtung heraus, Wichtiges zu schnell zu vergessen. Die schonungslose Beschreibung der Schrecken der Kriegs-Gewalt und der Armut der frühen Nachkriegsjahre sind beim Lesen oft schwer zu ertragen. Aber an dem, was die Menschen damals mitmachen mussten, ist nun mal Nichts zu beschönigen. Und ja, ich persönlich finde es darf und muss uns Jahrzehnte danach immer wieder mal vor Augen geführt werden, was Menschen sich gegenseitig Entsetzliches antun können, damit wir aus den Fehlern vorheriger Generationen lernen, statt sie nachzumachen. Besonders, da das aktuelle Geschehen in der Ukraine uns zeigt, dass Krieg auch in Europa leider nicht der Vergangenheit angehört und von Menschen verursacht wird, die den Verbrechern von damals in Sachen Machtgier und Grausamkeit in Nichts nachstehen.

Dafür, dass Wiebicke dazu beiträgt die Erinnerungen an den damaligen Kriegsterror und seine Nachwirkungen wach zu halten, bin ich ihm dankbar. Aber auch dafür, wie er mit dem Thema Tod und Sterben umgeht, wie er fragende Hilflosigkeit und Zerrissenheit der Zurückbleibenden schildert. Auch hier, wie im gesamten Buch, gibt er tiefe Einblick in Persönliches, ohne jemals seine eigene Privatsphäre und die seiner Angehörigen zu verletzen, lässt an pragmatischen und philosophischen Überlegungen teilhaben und hält, last but not least, ein überzeugendes Plädoyer für ein Lebensende im Hospiz, wenn Alltag in den eigenen vier Wänden und Unterstützung und eventuell notwendige Pflege durch Angehörige an ihre Grenzen gekommen sind.
Als ich angefangen habe, dieses Buch zu lesen, habe ich nach wenigen Seiten beschlossen, an dieser Stelle darüber zu schreiben und Stellen markiert, die mir so auf-/gefielen, oder die ich für so wichtig fand, dass ich sie dabei zitieren wollte. Es sind so viele geworden, dass ich mich jetzt auf Eines beschränke: die Empfehlung, dieses Buch unbedingt zu lesen. Für mich gehört es zu denen, die ich nach der Rückgabe in der Bücherei im örtlichen Buchhandel kaufen werde, damit es jederzeit griffbereit im Regal steht, weil ich bestimmt viele Passagen oder auch nur einzelne Absätze noch mal nachschlagen möchte. Nachdem ich es irgendwann das zweite oder sogar dritte Mal von vorne bis hinten gelesen habe.
fl
