Es ist nicht einmal ein Jahr her, dass ich von einer „Mischung aus Fremdscham, Fassungslosigkeit, Ärger/Wut, Hilflosigkeit und Mitleid“ schrieb im Zusammenhang mit dem Umgang von Geflüchteten in Deutschland und Europa. Ich war nicht so naiv, dass ich dachte, da würde sich kurzfristig etwas zum Besseren entwickeln, aber genau diese Gefühle, sogar noch stärker, überrollen mich jetzt, wenn ich Nachrichten sehe/höre, Zeitung lese und Diskussionen verfolge.
Wenn ich afghanische Bekannte treffe, dann weiß ich nicht, wie ich mit diesen Gefühlen umgehen kann. Da begegne ich Menschen, die sich viel Mühe gegeben haben, die deutsche Sprache zu lernen, sich in den deutschen Alltag mit all seinen Traditionen und kulturellen Normen einzufinden, die sich hier eine Existenz aufbauen oder neue berufliche Perspektiven entdeckt haben, die unsere Nachbar/innen und Mitbürger/innen geworden sind. Was kann ich ihnen sagen, wenn sie mich fragen, warum dem Land, das sie aufgenommen und ihnen all das ermöglicht hat, das Überleben ihrer Familien, Verwandte und Freunde in Afghanistan so schrecklich egal ist?
Ist es eine grandiose Unfähigkeit der verantwortlichen Regierungsmitglieder und ihrer Ministerialbeamt/innen, die Warnungen von Bundesswehrangehörigen, Botschaftspersonal und NGO-Mitarbeiter/innen nicht zu hören, geschweige denn zu verstehen? Oder ist es eine noch grandiosere Selbstüberschätzung aus über 6 000 Kilometer Entfernung, sicher und gemütlich hinter dem Schreibtisch oder in einer gepanzerten Dienstlimousine sitzend, die Lage in Afghanistan besser einschätzen zu wollen, als die Menschen vor Ort?
Wie kann man denn morgens noch in den Spiegel gucken, wenn man weiß, dass man dafür verantwortlich ist, dass hunderte Bundeswehr-Helfer/innen und ihrer Familien in Lebensgefahr schweben? Diejenigen, die abends in die Fernsehkameras gucken scheinen damit kein Problem zu haben.
Im Gegenteil, statt zu versuchen, den Schaden nicht noch zu vergrößern, wurde schon vor dem Start der ersten Bundeswehrmaschine nach Kabul zur Evakuierung von deutschen Staatsangehörigen und afghanischen Ortskräften Wahlkampf gemacht mit dem Slogan „Kein zweites 2015“. Ausgerechnet diejenigen, die in Sachen Flüchtlings-Schutz und –Politik versagt haben, glauben sie könnten eine Zeitmaschine konstruieren. Was für eine unerträgliche Hybris.
Grundsätzlich stimme ich diesem Slogan sogar zu, allerdings mit einem ganz anderen Inhalt. Nein, ich will auch nicht, dass sich das wiederholt, was wir seit 2015 immer wieder erlebt haben. Ich will nicht, dass Nazis, Rassisten, Rechtsextreme, Ausländerfeinde und Islamhasser als „besorgte Bürger“ verharmlost werden. Ich will nicht, dass Ängste vor Phantasiegebilden wie Zwangs-Missionierung und Bevölkerungsaustausch , geschürt werden von Leuten, die selber nur Angst haben, ein paar Krümel von einem Kuchen abgeben zu müssen, den sie nicht mal selber gebacken haben. Ich will nicht, dass Minderheiten für sich in Anspruch nehmen „Wir sind das Volk“ und ich will erst recht niemanden mehr „Ausländer raus“ grölen hören.
Und auch die ewige Leier“ dass können wir uns nicht leisten“ will ich nicht mehr hören. Ein Land, das es sich leistet jedes Jahr auf rund 125 Milliarden Euro (ca. ein Drittel der Gesamtsumme des Bundeshaushaltes durch Steuerhinterziehung zu verzichten, soll durch die Aufnahme von Geflüchteten pleite gehen? Wie viele Unterkünfte, Deutsch- und Integrationskurse und Therapiestunden für traumatisierte Kinder hätte man denn finanzieren können mit dem Geld, das Minister durch ihre Maut-Träume oder Schrottmasken-Deals versenkt haben?
Ja, es ist eine Mammutaufgabe mit unzähligen Problemen, Menschen zu integrieren, die ein anderes Weltbild haben, deren Lebensumstände für uns manchmal aus der Zeit gefallen zu sein scheinen, deren Lebensplanung- und Ziele für uns teilweise nicht nachzuvollziehen sind, die uns genauso fremd sind, wie wir ihnen. Da hat es in der Vergangenheit viele Fortschritte gegeben, es hat aber auch Kriminalität und Gewalt bis zum Mord gegeben. Aber wird sind nicht mehr im Jahr 2015, als nur sehr schwer abzuschätzen war, welche Probleme im Einzelnen bewältigt werden müssen. Es wurden Strukturen geschaffen und Erfahrungen gesammelt, die heute zur Verfügung stehen und wir könnten aus vergangenen Fehlern lernen. Theoretisch.
Dafür, dass Politik und große Teile der Gesellschaft seit Jahren aus all dem so gut wie nichts gelernt haben, oder schlimmer noch nichts lernen wollen, schäme ich mich fast genauso, wie für menschenverachtende Empathielosigkeit, die gerade wieder genauso sichtbar wird, wie 2015.
fl
