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Portion Senf dazu?

Die Bücherei St. Lamberti bloggt

Monat

September 2020

Ich schäme mich

Wikipedia erklärt: >>Fremdscham tritt auf, wenn eine andere Person Normen oder Werte verletzt und das selbst nicht merkt oder nicht als peinlich empfindet. Sie ist damit ein wichtiges Regulativ.<<

Es ist eine Mischung aus Fremdscham, Fassungslosigkeit, Ärger/Wut, Hilflosigkeit und Mitleid, die ich seit den Nachrichten über den Brand im Elendslager Moira und der nachfolgenden Berichterstattung über die Situation vor Ort und die Reaktionen von verantwortlichen Politiker/innen und Regierungsmitgliedern lese.

Als direkt nach dem Brand in Moira EU-Migrationskommissar Margaritis Schinas, der übrigens auch für die „Förderung des europäischen Lebensstils“ in Brüssel zuständig ist, die Tagesschau in ihrer Online-Ausgabe zitierte mit >>„Die Zeit ist abgelaufen“, sagte er. Nun sei der richtige Moment, die seit Jahren bestehenden Probleme anzugehen.<< , war das einer meiner seltenen Momente von Sprachlosigkeit über eine Verhöhnung all der Menschen, die seit vielen Monaten, ja Jahren, im Lager Moira festsitzen, ohne dass sich jemand zielführend um sie kümmert.

Keinesfalls beruhigter war ich, als ich dann las, dass Politiker/innen, wie Saskia Esken oder Norbert Röttgen öffentlichkeitswirksam plötzlich ganz dringende Forderungen stellten, deutlich mehr als die von Minister „Migration ist die Mutter aller Probleme“ Seehofer letzte Woche in Aussicht gestellten 150 Kinder und Jugendliche aus Moria aufzunehmen. Herrschaften schon vergessen, dass ihr noch im März gegen die Aufnahme von 5 000 besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen aus genau diesem Lager gestimmt habt? In der Unionsfraktion haben damals lediglich drei Abgeordnete dafür gestimmt, zwei haben sich enthalten, bei der SPD waren es zwei Stimmen und eine Enthaltung. Alle anderen über 500 anwesende Abgeordneten von Parteien, die Begriffe wie „christlich“ und „sozial“ im Namen tragen, haben dagegen gestimmt.

Es ist jetzt eine Woche her, dass die Zelte und Hütten im Lager auf Lesbos verbrannten, und immer noch müssen im hochtechnisierten und bestens ausgerüsteten Europa Familien mit kleinen Kindern hungrig und durstig auf der Straße schlafen. Seit Tagen schildern in den Medien Augenzeugen die unerträglichen Zustände, die Verhinderung von Hilfslieferungen, Polizeigewalt und rechtsextreme Übergriffe, ohne dass sich für die notleidenden Menschen etwas zum Besseren ändert.

Da ist für Viele erheblich wichtiger, dass „die“ Flüchtlinge die Brände im Lager ganz bestimmt selber gelegt haben, ohne dass die Untersuchungen abgeschlossen sind. Dazu zitiere ich mal den von mir geschätzten Cartoonisten Ralph Ruthe: >>Es ist Silvester. Eine fremde Person rennt mit Verbrennungen an der blutenden Hand die Straße entlang. Jeder normale Mensch würde helfen wollen und die Person direkt ins Krankenhaus bringen. Empathielose Arschlöcher hingegen fragen seelenruhig „Haben Sie den Böller selbst gebaut?<<

Und natürlich wird von interessierten Kreisen die Angst vor dem endgültigen finanziellen Ruin durch die Aufnahme von ein paar tausend Menschen geschürt, obwohl seit 2015 niemand einen Euro weniger auf dem Lohnstreifen/der Gehaltsabrechnung/im HartzIV- oder Rentenbescheid hat, weil Unterbringung, Bildungs- und Integrationsmaßnahmen für Geflüchtete finanziert werden mussten. Und selbstverständlich droht für manche mit der Einreise jedes arabischen 12Jährigen die Islamisierung Deutschlands, und kriegen Rassisten und Rechtsradikale von AfD und Konsorten gerade mal wieder Oberwasser, wenn es um Flüchtlingshetze geht. Manche Leute sollten sich nicht nur beim sonntäglichen Kirchgang von ihrem Gott erhoffen „und vergib uns unsere Schuld“, sondern im Stundentakt.

Tausende von traumatisierten und entwicklungsgestörten Flüchtlingskinder, nicht nur in den Elendslagen innerhalb Europas, haben seit Jahren keinen Zugang zu Gesundheitsvorsorge und Bildung und damit kaum Chancen auf Anschluss an Berufsleben und gesellschaftliche Integration. Und immer noch fabulieren Politiker/innen weiter über eine „gemeinsame europäische Lösung“ obwohl x Verhandlungen nicht erst seit gestern glasklar deutlich gemacht haben, dass die niemals zustande kommen wird. Bleibt abzuwarten, ob und wie der griechische Alleingang, den Flüchtlingen die Ausreise zu versperren, als „gemeinsame europäische Lösung“ verkauft wird, um weiterhin über Maßnahmen nur zu reden, statt sie endlich mal umzusetzen, bevor Corona schneller ist. Die Bekämpfung von Fluchtursachen? Ein Kapitel für sich, aber ganz bestimmt keine Erfolgsgeschichte.

Die Binse „Wenn du nicht mehr weiter weißt, gründe eine Arbeitskreis“ ist längst nicht mehr zeitgemäß. Im September 2020 sollte sie heißen: „Interessiert dich einen Sch**ß? Gründe einen Arbeitskreis.“

Ich schäme mich fremd.

fl

Der Geist von Corona

Corona geht mir immer noch, mal mehr mal weniger auf den Geist, und zunehmend geht es mir auf den Geist, wenn Corona mir mal nicht auf den geist geht. Alles klar?

Es ist wohl besser, wenn ich das mal ein bisschen aufdrösel. Und keine Angst, etwas, was mir an Corona aktuell wirklich auf den Geist geht, nämlich all die Spinner, Extremisten und Verschwörungs-Gläubigen, denen zum Thema Corona nichts besseres einfällt als „Keine Ahnung, was warum beschlossen wurde, ich bin auf jeden Fall dagegen.“ werden nicht Thema dieses Beitrags. Da wären nämlich zu viele Sternchen nötig, um die Beschreibung dieser *** Leute, die sich mit anderen *** zusammenrotten und von *** lauthals***, die von anderen, völlig *** und *** voller *** auch noch weiter verbreiten, auf einem erträglichen, sprachlichen Niveau zu beschreiben.

Was mir an Corona, wie wahrscheinlichen vielen Menschen nach wie vor auf den Geist geht, ist die auch nach Monaten noch ungewohnte Maske, die ich erfreulicherweise nur manchmal aufsetzen muss. Aber immer, wenn ich die gerade mal wieder besonders leid bin, gucke ich auf die Homepage der Stadtverwaltung nach den Infektionszahlen, die seit vielen Wochen zwischen null und drei bestätigten Fällen schwanken, und dann geht’s wieder. Hilfreich finde ich auch den Gedanken, dass ich, anders als den BH, den zu tragen auch nicht wirklich Freude bereitet, die Maske immer wieder zwischendurch abnehmen kann.

Aber ansonsten gibt es wieder Veranstaltungen, die ich besuchen kann, ich kann wieder in die Bücherei gehen, nicht nur wenn ich „Dienst“ habe, kann mich mit Freund/innen und Bekannten treffen, auch in der Eisdiele oder in der Kneipe. Es ist fast wieder ein ganz normaler Alltag mit für mich persönlich kleinen Einschränkungen, die ich nicht für problematisch halte. Aber ich habe auch das Glück, dass mein Einkommen nicht z. B. von größeren Veranstaltungen abhängig ist, die immer noch nicht stattfinden können.

Also geht mir Corona eigentlich nur noch ganz selten auf den Geist, was aber leider zur Folge hat, dass ich merke, dass ich nachlässiger werde. Die Sache mit den Abstandsregeln in der Öffentlichkeit klappt bei mir eigentlich ganz gut. Da ärgere ich mich höchstens ab und an mal vornehmlich über eine gewisse Spezies, deren Einschätzung von eineinhalb Metern darauf schließen lässt, dass sie bei der Sache mit den 20 Zentimetern auch hoffnungslos daneben liegt. Im privaten Bereich aber stelle ich immer öfter fest, dass ich sorgloser werde und Freund/innen auch schon mal zu nahe komme, wenn wir beide z. B. zur gleichen Zeit durch ein und dieselbe Tür gehen oder beide nach ein und demselben Gegenstand greifen wollen. Mein anschließendes schlechtes Gewissen beruhige ich dann immer mit den 0 bis 3 bekannten Infektionsfällen in Städtchen und guten Vorsätzen für künftige Gelegenheiten. Aber was mir so ganz derbe auf den Geist geht ist die Tatsache, dass ich es mit dem regelmäßigen Händewaschen unbewusst und ungewollt gar nicht mehr so ernst nehme, obwohl ich dachte, diese Routine wäre inzwischen zur Selbstverständlichkeit geworden. Zehn Minuten nach dem Nachhausekommen vom Einkaufen beim Lesen der whatsapp-Nachrichten auf einmal den siedend heißen Gedankenblitz zu haben „Verdammt (ohne***), du hast dir die Hände ja noch nicht eigeseift“ war in der Tat erschreckend. Die danach gefassten guten Vorsätze, mich zu bessern, habe ich aber wieder eingehalten. Falls es euch ähnlich geht, wie mir: Bitte seid  weiterhin vorsichtig und nehmt Rücksicht auf eure Gesundheit und die der anderen, denn wir dürfen nicht vergessen, es ist

fl

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