Erinnert ihr euch noch an die Krake Paul, die berühmt wurde, weil sie die Ergebnisse von Fußball-Länderspielen „voraussagen“ konnte (mich hat jüngst eine Twitter-Perle auf ihn gebracht)? Pauls Glaskugel waren zwei eckige Behälter, in denen jeweils eine Miesmuschel darauf wartete, von ihm verspeist zu werden. Ja, der Berliner Reichstag mit seiner Kuppel erinnert auch an eine Glaskugel, und das, was uns da als Corona-Politik verkauft wird, gefährlich an Spökenkiekerei.
Vor einem knappen Jahr gehörte ich noch zu denen, die die Ergebnisse von Corona-Sitzungen unter Leitung der Kanzlerin für nachvollziehbar und (meistens) richtig befunden habe. Inzwischen bleibt nicht viel mehr übrig als Respekt vor Merkel, dass sie die Landesmütter und Väter noch nicht in ein Aquarium gesperrt hat, damit sie auf der Suche nach Futter (=Wähler/innenstimmen) sich ganz zufällig an Acrylschachteln klammern.
Dabei bräuchte es gar keine Kraken und auch keine Politiker/innen-Runden, denn wir haben sehr kompetente Fachleute in diesem Land, deren düsteren, fachlich basierten Voraussagen zur Entwicklung der Pandemie hundertprozentig eingetroffen sind. Eine deutliche Mehrheit der Bürger/innen hatte sich bereits zu Weihnachten für deren Forderung ausgesprochen, die Anti-Corona-Maßnahmen deutlich zu verschärfen, endlich mal etwas anzuordnen, was den Namen Lockdown auch wirklich verdient.
Stattdessen gab es angeblich maßvolle Öffnungen, indem z. B. Kinder in die Schulen geschickt wurden, obwohl die versprochenen und notwendigen Schnelltests noch gar nicht zur Verfügung stehen. Es gab auch Überlegungen, nach Tübinger Vorbild Gastronomie, Handel und Kulturbetrieben abhängig von Testergebnissen zugänglich zu machen. Wenn da der Mann, der sich gerne in der Rolle des Landesvaters und künftigen Kanzlers sieht, im Landtag fragt „Warum sollten wir das nicht mal probieren?“ kriegt meine Geduld eine ganz, ganz kurze Lunte. Wie wäre es denn mal mit einem gut ausgearbeiteten, von Expert/innen abgesegneten Konzept? Oder sollen wir statt des in Todesanzeigen üblichen „Nach langer schwerer Krankheit…“ künftig tausende Male lesen müssen „Nach fehlgeschlagenem politischem Ausprobieren…“?
Die Pandemie und deren Opfer lassen kein „Trial and Error“ zu, und da nötigt es mir einigen Respekt zu, wenn die Kanzlerin einen Fehler ohne Beschönigung zugibt und die volle Verantwortung übernimmt. Wenn alle Politiker/innen diesem Beispiel mal folgen würden und zugäben, wo sie Mist gebaut oder lieber für das eigene Wohl, als für das Wohl des Volkes agiert haben, gäbe es wahrscheinlich tagelange Sondersitzungen von Bundestag und Kabinett.
Ja, mein Vertrauen in Politik und Regierung schwindet immer mehr, wenn ich sehe, wie Corona-Schutzverordnungen zum Teil so zusammengestümpert werden, dass sie wenige Stunden nach der Veröffentlichung überarbeitet werden müssen. Es ist nicht lustig, wenn Leiter/innen öffentlicher Einrichtungen und Gewerbetreibende mit ihren Mitarbeiter/innen auf neue Anordnungen wie das Kaninchen auf die Schlange starren und immer wieder bitter enttäuscht werden, weil sich die Zuständigen keinen Deut um ihre gut ausgearbeiteten und oft teuren Schutzkonzepte scheren, sondern potentielle Kundschaft lieber zum Ballermann jetten lässt.
Aktuell kommen leise Töne aus der Politik, endlich mal das zu tun, was Expert/innen und Bürger/innen, die den monatelangen Eiertanz gründlich satt haben, immer wieder fordern. Zwei Wochen lang alles, was nicht lebensnotwendig ist, dicht machen, auch Büros und Firmen, ist m. E. längst überfällig. Auch den Verkauf auf Lebensmittel und wenige Drogerie-Artikel beschränken und kein Gedränge vor Wühltischen mit „Aktionsware“ zweimal die Woche. Außerdem abendliche und nächtliche Ausgangssperren, Aussetzen von Covidioten-Demonstrationen und Verhinderung von Einkaufstourismus in weniger betroffene Regionen. Gleichzeitig Impfen mit Hochdruck, und zwar in Hausarztpraxen und nicht mit hohem bürokratischen Aufwand in abgelegenen Impfzentren.
Ob das umgesetzt wird, und die Lage sich in den kommenden Monaten bis zu den Bundestagswahlen entspannt? Falls nicht, könnte man getrost so manchen gut gepolsterten Sessel in Berlin gegen ein Kraken-Aquarium austauschen, ohne das jemand das merkt.
fl
